The story of Frank
«Um mich herum starben die Kinder, und trotzdem wollte mir niemand
erklären, was ich hatte», erinnert sich Frank Grossmann an seine
Jugend im Spital. Die Ärzte und auch seine Eltern hätten sich gescheut,
ihm zu sagen, dass er an einem seltenen Lymphdrüsenkrebs leide, der
nur schwer zu behandeln sei und an dem er womöglich sterben würde.
Vier Jahre, von 12 bis 16, durchlitt er eine quälende Therapie nach der
anderen. «Ich hatte damals so viele Fragen, und niemand konnte mir die
Antworten geben», erinnert sich der 46-Jährige Mediziner heute. «Dabei können Kinder
selbst schwere Themen sehr wohl verarbeiten», weiss er heute, «wenn man es eben
adäquat verpackt und mit einer liebevollen Story versieht.»
Grossmann hat überlebt. «Mein Krebs galt als besonders selten, da
Kinder den eigentlich gar nicht bekommen», so der schlanke Deutsche,
der auch eine Schweizer Staatsbürgerschaft hat. Im Klartext bedeute dies, dass es keine
Therapiemöglichkeiten für Kinder gab, weil die Zahl der Betroffenen
zu klein war, um für die Pharmamultis interessant zu sein. «Alle Krankheiten,
bei denen weniger als fünf Betroffene auf 10 000 Gesunde kommen,
gelten in Europa als selten», erklärt Grossmann. Dazu gehörten
nicht nur rar auftretende Krebsarten wie sein eigener, sondern auch Erkrankungen
wie Mukoviszidose oder die oft als Schlafkrankheit bezeichnete
Narkolepsie.
«Eigentlich wäre ich lieber Kinderarzt geworden», sagt Grossmann.
Studiert hat er jedoch Tiermedizin, «weil ich einerseits eine grosse Nähe
zu Tieren und anderseits eine Traumatisierung durch die vielen Therapien
erlitten hatte». Noch viele Jahre später sei ihm schon beim Betreten
eines Krankenhauses übel geworden. Seine Dissertation an der
ETH Zürich verfasste Grossmann dann doch zu einem humanmedizinischen
Thema. Nachdem er zeitweise eine Tierarztpraxis leitete, da der
Kanton Zürich ihn nur in seinem angestammten
Beruf arbeiten liess, wechselte er zu einer
kleinen Pharmafirma. Grossmann lebte sparsam
und sammelte Know-how für den Sprung
in die Selbständigkeit. 2010 gründete er
ein Hybridunternehmen aus einer
Aktiengesellschaft und einer gemeinnützigen Stiftung. Rechnet man die
vier Jahre Vorarbeit ohne Gehalt mit, investierte Grossmann geschätzte
500 000 Franken in sein Projekt – nur ein kleiner Teil wurde durch einen
Mitbegründer finanziert. Grossmanns Mission: Seltenen Krankheiten
mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und gleichzeitig einen konkreten
Beitrag zu Therapie und Direkthilfe für Kinder zu leisten.
20 Millionen betroffene Kinder gebe es allein in Europa, referiert
Grossmann, daher sei der Begriff «Seltene Krankheiten» eigentlich irreführend.
Wichtig sei vor allem, den Betroffenen Kraft und Widerstandsfähigkeit
zu geben: «Patient Empowerment» nennt der Unternehmer
das. Hierzu hat er ein liebevoll gestaltetes Kinderbuch entwickelt: «So
wie du und ich – Cubas fantastische Reise zu den Seltenen Krankheiten
dieser Welt». Darin lässt er seine Zwergschnauzer-Hündin Cuba um die
Welt reisen, wobei sie andere von seltenen Krankheiten betroffene Tiere
trifft und sich ihre Geschichten erzählen lässt. «Alle Kinder brauchen
Freunde, ob krank oder nicht», umreisst Grossmann die Grundidee,
während die echte Cuba brav unterm Tisch sitzt. Weil der Absatzmarkt klein ist und die Entwicklung neuer Medikamente
langwierig und teuer, gibt es für viele seltene Krankheiten nach
wie vor kaum oder nur extrem teure Behandlungsmöglichkeiten. Deshalb
will Grossmanns Orphanbiotec AG neue Medikamente entwickeln.
Konkret bedeutet dies, dass die Orphanbiotec-Stiftung zunächst Bedarf
und Machbarkeit eines Entwicklungsprojekts evaluiert und dann eine
Anschubfinanzierung durch private Gönner und öffentliche Gelder einwirbt.
Für die Entwicklung geht die Stiftung Orphanhealthcare Partnerschaften ein, wie beispielsweise
mit der dafür eigens gegründeten Firma und universitären Forschungseinrichtungen. Gerade steckt
das erste auf diese Weise entwickelte Medikament in der präklinischen
Phase: «Wir können bereits jetzt nachweisen, dass es in Versuchen mit
Zellen wirkt», sagt Grossmann stolz.
Etwas mehr als 11 Millionen kostet die Entwicklung
dieses Präparats, das bei der Therapie von Magenkrebs zum Einsatz
kommen wird. Verschwindend wenig im Vergleich zu einer durchschnittlichen
Medikamentenentwicklung, die laut dem Schweizer Forschungsverband
Interpharma in der Regel 1,3 Milliarden verschlingt.
Indem Orphanbiotec unter anderem auf eigene Laboratorien und Forschungsabteilungen
verzichtet, hält die Firma die Kosten gering. Irgendwann
einmal solle der Verkauf seiner Medikamente die Stiftungsarbeit
mitfinanzieren, wünscht sich Grossmann. Noch sei die Stiftung allerdings
auf Spenden angewiesen, und auch die AG habe erst wenig mehr
als Absichtserklärungen von sogenannten sozial engagierten Investoren
erhalten.
«Mir wurde bereits unterstellt, ich sei ein Gegner von Big Pharma –
doch das ist überhaupt nicht der Fall, schliesslich bin ich auch wegen
eines Roche-Medikaments noch am Leben», sagt Grossmann. Er verstehe
sich stattdessen als Brückenbauer und wünsche sich von den grossen
Unternehmen, Medizinern und der Politik lediglich mehr Aufgeschlossenheit
gegenüber alternativen Ansätzen und traditionellem Wissen,
auf die Orphanbiotec bei der Medikamentenentwicklung zurückgreift.
Über eine Investition in die Entwicklung eines Orphanbiotec-Medikaments
für eine seltene Erkrankung könnten Firmen wie Roche und
Novartis ihre soziale Glaubwürdigkeit erhöhen, so Grossmann. Aus seiner
Sicht sei sozialverantwortliches Unternehmertum sowieso ein Muss
für die Branche: «Alle Unternehmen sollten sozialverantwortlich handeln
», sagt er, meint aber auch: «Davon sind wir noch weit entfernt.»
Nebenbei lehrt Grossmann als freier Dozent Pharmazeutische Wissenschaften
an der ETH Zürich. In zehn Jahren, wünscht er sich, solle
sein Kinderbuch in 20 Sprachen übersetzt sein und alle Charaktere als
Plüschfiguren kranken Kindern weltweit Lebensmut machen. «Wenn
dann noch fünf neue Entwicklungspartner mit an Bord und wir aus dem
ersten Projekt refinanziert sind», dann hätte sein Lebensprojekt, die Stiftung Orphanhealthcare und
Orphanbiotec, alle Hausaufgaben richtig gemacht, sagt er und streichelt
seiner Cuba übers schwarze Lockenfell. Text: SURPRISE/Sara Winter-Sayilir, Foto Miriam Kuenzli